Pope und der englische Klassizismus

Pope und der englische Klassizismus
Pope und der englische Klassizismus
 
Die englische Literatur des 18. Jahrhunderts ist ungemein facettenreich und hat in mehreren Bereichen bleibende Leistungen vorzuweisen: Während der ersten Jahrzehnte erreichten die englische Prosa und die Versdichtung - vor allem Alexander Popes - ein in dieser Breite vorher nicht gekanntes Niveau. Spätestens seit der Mitte des Jahrhunderts erschienen jene Romane, die den Ruhm der Engländer auf diesem Gebiet begründeten: 1740 Samuel Richardsons Briefroman »Pamela«, 1749 Henry Fieldings Erziehungsroman »Tom Jones« und 1760 bis 1767 Laurence Sternes »Tristram Shandy«, in dem der Realismus der Vorgänger bereits wieder infrage gestellt wird. Auch einige der früheren Versuche, im Unterschied zur »romance« erfahrbare Wirklichkeit in einer »novel« darzustellen, sind bis heute lesenswert: Vor allem Daniel Defoes »Robinson Crusoe« (1719) ist hier zu nennen. In all diesen Spielarten des Romans wird die Absicht der Autoren deutlich, »life in its true state«, das Leben in seiner wahren Gestalt darzustellen, wie Samuel Johnson es formulierte.
 
Diese Blüte des englischen Romans ist ohne den Höhenflug essayistischer und journalistischer Texte nach der Aufhebung der Zensur (1695) nicht denkbar. Oft genug boten zahlreiche Periodika einer immer größer werdenden Leserschaft große literarische Kleinkunst: vor allem Daniel Defoes »The Review« (1704-13), Richard Steeles »The Tatler« (1709-11), Joseph Addisons (und Steeles) »The Spectator« (1711-12) - und viel später »The Rambler« (1750-52) des Dr. Johnson, der dann am Ende seines Lebens als Meisterwerk klassizistischer Prosa seine vielbändigen »Biographischen und kritischen Nachrichten von englischen Dichtern« (1779-81) verfasste.
 
Dagegen fiel das Drama jener Zeit ab. Besonders die während der ersten Jahrhunderthälfte entstandenen Bühnenwerke erregen seit langem nur noch das Interesse des Theaterhistorikers. Lediglich zwei Bühnenwerke haben bleibenden Eindruck hinterlassen. John Gays»Bettleroper« (1728), jene gelungene Parodie der italienischen Oper, regte Bert Brecht und Kurt Weill zur ebenso erfolgreichen »Dreigroschenoper« (1928) an. Und George Lillos »Kaufmann von London« (1731), eine »Domestic tragedy« (= häusliche Tragödie), übte starken Einfluss auf das bürgerliche Trauerspiel (etwa Lessings) in Deutschland aus.
 
Doch kulminiert der Geist dieses klassizistischen, augusteischen Zeitalters in der Versdichtung eines Mannes: Alexander Popes, der wie kein anderer den vorbildhaften Dichtern der Goldenen Latinität unter Kaiser Augustus nacheiferte - und oft nahekam. Pope dominiert die englische Literatur der ersten Hälfte des Jahrhunderts wie der zwanzig Jahre jüngere Dr. Samuel Johnson jene der zweiten. So versucht sich Pope unter anderem in jenen drei Gattungen, denen das große Vorbild Vergil für alle Zeit - insbesondere jedoch für die klassizistische - die Maßstäbe gesetzt hat: in der Pastoraldichtung, im Lehrgedicht und im (komischen) Epos.
 
Nach den politischen und stilistischen Aufgeregtheiten des 16. und 17. Jahrhunderts tritt in England mit der Glorious Revolution (1688) Beruhigung ein. Hand in Hand mit der politischen Konsolidierung entwickelt sich ein Weltbild, das weder von puritanischer Düsterkeit noch von der zügellosen Freizügigkeit der Restaurationszeit geprägt ist, sondern von aufklärerischem Optimismus - von einer Benevolenz, wie sie vor allem der Earl of Shaftesbury postuliert hat. Im Bereich der Literatur sind entsprechende vernunftgemäße Kriterien zu erfüllen: Klarheit des Stils, regelhafte Ordnung und sittlich bessernde Absicht. Viele Konstituenten dieses Zeitgeistes und Epochenstils haben in Popes Werke Eingang gefunden. Zunächst widmete er sich der bukolischen Dichtung und Naturbeschreibung. Als Sechzehnjähriger (1704) schreibt er die »Pastorals« - eine den Jahreszeiten entsprechende Folge von vier Hirtengedichten, in denen der junge Dichter das Glück der ländlichen Idylle preist und »deren Schattenseiten verbirgt« (Popes Vorwort). Bereits in diesem Jugendwerk werden typische Merkmale der Dichtungen Popes sichtbar: die souveräne Beherrschung des Reimpaars und der ständige Rückgriff auf die antiken Vorbilder - oft in Form übersetzter Zitate oder Paraphrasen. Letzteres entspricht durchaus dem klassizistischen Prinzip der »imitation«: der schöpferischen Nachahmung.
 
Ungefähr gleichzeitig mit den »Pastorals« begann Pope mit der Arbeit am »Windsor Forest« (mehrfach erweitert; 1713 veröffentlicht). Hier mischt sich die bukolische Tradition mit jener des reflektierenden Lehrgedichts, für das Vergils »Georgica« (»Vom Landleben«) Vorbild war. Im Mittelpunkt steht nicht die Beschreibung der Parklandschaft um Windsor, wo Pope seine Jugendjahre verbracht hatte, sondern deren symbolische Ausnutzung für die Beschreibung der politischen Gegenwart unter Königin Anna (1703 - 14): Natur und Gesellschaft sind gleichermaßen »harmoniously confused«, in harmonischer Unordnung. Kontrastierenden Rückblicken auf die Turbulenzen früherer englischer Geschichte folgt schließlich eine Art Ausrufung des neuen goldenen Zeitalters: »Die ganze Welt wird unsere Herrlichkeit betrachten.«
 
Mit dem frühen »Versuch über die Kritik« (1711 veröffentlicht) über Literaturkritik und dem späten »Versuch vom Menschen« (1733/34) über philosophische Fragen hat Pope die alte Form des Lehrgedichts mit neuem Leben erfüllt. Kaum Neues sagt er - doch das Alte sagt er auf neue, witzige, griffige Weise: »Oft schon gedacht, doch so gut nie gesagt«, bemerkt er im »Versuch über die Kritik«. Zu Popes Lehrmeistern gesellen sich nun Horaz (»Ars Poetica«) für den »Versuch über die Kritik« sowie Lukrez (»De Rerum Natura«) für den »Versuch vom Menschen«. In beiden Essays bringt Pope das fünfhebige Reimpaar - schon seit Chaucer im 14. Jahrhundert beliebt - zur Vollendung. Viele dieser »couplets« sind als pointierte Aphorismen aus dem fortlaufenden Text herauslösbar und geistern durch den Zitatenschatz eines jeden gebildeten Engländers. Zu den wichtigsten dieser Leitsätze gehört im »Essay on Criticism« die Forderung an Dichter und Kritiker, der Natur zu folgen: »First follow Nature. ..«. Diesen Regeln hätten schon die Dichter der Antike gehorcht, die daher als Vorbild zu gelten hätten: »To copy nature is to copy them« (= Die Natur zu kopieren heißt jene zu kopieren).
 
Im späten »Versuch vom Menschen« versucht Pope, ein »system of ethicks« zu konstituieren, in dem die Gedanken der wichtigsten zeitgenössischen Philosophen Englands, Shaftesburys und Bolingbrokes vor allem, integriert sind. In einer bemerkenswerten Gratwanderung zwischen theologischer Orthodoxie und aufklärerischem Deismus entwirft Pope ein optimistisches Bild von der Welt und dem Menschen - trotz der Existenz des Bösen.
 
Auch dem Epos versucht Pope auf seine Weise gerecht zu werden. Für ein Epos etwa in der Art der »Aeneis« seines verehrten Meisters Vergil fehlen im Zeitalter des Rokoko die gesellschaftlichen Voraussetzungen. Statt dessen verfasst Pope erfolgreiche Übersetzungen der »Ilias« (1715-20) und der »Odyssee« (1725 -26), die als Nachdichtungen Eigenwert besitzen - und er schreibt das komische Epos »Der Lockenraub« (1712; erweiterte Fassung 1714), das als überragendes Meisterwerk Popes, ja des englischen Rokoko gelten kann. In der Tradition des pseudohomerischen »Froschmäusekrieges« und Boileaus »Chorpult« wird hier das klassische Epos durch die heroische Schilderung einer trivialen Begebenheit parodiert - des Raubs einer Locke der schönen Belinda durch einen ihrer Verehrer. Die ungemein komische Wirkung resultiert aus der Diskrepanz zwischen nichtigem Vorfall und unangemessen hohem Stil. Sämtliche Kunstgriffe des ernsthaften Epos werden unernst eingesetzt: Musenanrufung, Prophezeiungen, Schlachtbeschreibungen und so weiter. In kaum einer anderen Dichtung des 18. Jahrhunderts ist die Eleganz und Leichtigkeit des Rokoko so eingefangen wie in dieser, die bereits die tändelnde Erotik der Gemälde Fragonards ahnen lässt.
 
Prof. Dr. Theo Stemmler
 
 
Englische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hans Ulrich Seeber. Stuttgart u. a.21993.
 Schirmer, Walter F.: Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur. 2 Bände. Tübingen 61983.

Universal-Lexikon. 2012.

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